Gelbstieliger Leistling, Starkriechender Pfifferling Craterellus lutescens Foto: Fredi Kasparek Frische Pfifferlinge, extra klein, Herkunftsland Frankreich, 100 g DM 5.95. Daß die Pilze durch ihre eher rostgelbe als dottergelbe Farbe einen etwas dunkleren Eindruck als die normalen Pfifferlinge machten, störte offenbar keinen einzigen der zahlreichen Kunden. Ebensowenig, daß man die Leisten nicht sehen konnte. Schließlich waren die Pilzchen allesamt noch winzig klein und fest geschlossen und da war es kein Wunder, daß man die Hutunterseite nicht sehen konnte. Das ist ja bei Kulturchampignons auch nicht anders. Viele der Winzlinge waren sogar von einem zarten Schleier noch fein umsponnen. Bereits um zehn Uhr waren sie restlos ausverkauft. Baby-Pfifferlinge, wirklich allererste Sahne, die Kunden waren entzückt und schätzten sich glücklich, früher als die anderen aufgestanden zu sein. Pech für die, die den Hintern erst um elf Uhr aus dem Bett kriegen. Keine Baby-Pfifferlinge für die Langschläfer. Wann würde man noch einmal im Leben die Gelegenheit zu einem solch exquisiten Genuß haben? In der Tat: Werner Häubling hatte wirklich immer ganz besondere Köstlichkeiten zu bieten. Seine Kunden waren ihm außerordentlich dankbar und hatten ohne Frage blindes Vertrauen in die Unbedenklichkeit der Waren des Ambulanten Händlers. Das monetäre Ergebnis dieses Markttages war beeindruckend. Wieder einmal hatten Werner und Karljohan den Finger am richtigen Loch. Als die beiden Männer gegen zwei Uhr nachmittags den zwölf Meter langen Verkaufshänger rückwärts in die eigens dafür gebaute Garage bugsierten, war kein einziger Wildpilz mehr da. Während sich Vater und Sohn die Hände wuschen, bevor sie sich zu Tisch begaben, berichtete Gundula Häubling von den Anrufen des Tages. Alle, ausnahmslos alle, die am Vortag von der Firma beliefert wurden, hatten mit höchster Dringlichkeitsstufe Wildpilze nachbestellt. Ein Wunsch, der einiges an Organisationstalent erforderte, würde man ihn erfüllen wollen. Werner Häubling dachte an seine harte Lehrzeit als Marktfahrer: entbehrungsreiche Jahre des Mangels. Sein Sohn hatte diese Zeiten nie kennengelernt. Der Junior wuchs auf in einer Phase des opulenten Überflusses. Jeder konnte alles sofort und in jeder gewünschten Menge haben. Lieferant war derjenige, der am leistungsfähigsten war. Heißt: schneller, besser oder billiger. Jetzt würde eine weitere Aufgabe den Sohn herausfordern und ihn mit den wahren Problemen des Gewerbes konfrontieren. Zufrieden setzte sich der Hausherr vor seinen Teller und alle anderen Mitglieder der Familie taten es ihm gleich. Gundula hatte wie jeden Tag für alle fünf gekocht und der gemeinsame Mittagstisch war die einzige Stunde des Tages, an dem sie zusammen waren. Heute gab es Steinpilze in Sherryrahm mit Kartoffelklößen, also etwas ganz Besonderes. Es war strikt verpönt in dieser kostbaren Stunde über die Arbeit, über Lieferungen und Lieferanten, über Gemüse und Obst und über Markt und Geschäfte zu reden. Wenigstens diesbezüglich hatte sich Gundula Häubling durchsetzen können. Aber heute war das anders. Wird andernorts
fortgesetzt Tintling 3/2012 |