Ochsenzunge, Leberreischling Fistulina hepatica Uwe Braun. Sie schaute in Schubladen und Schrankfächer,kramte hier einen Stapel Briefe hervor, die sie dereinst an Karljohan geschrieben hatte, dort den Kerzenstummel von Selina´s Geburtstagstorte. Lauter Kleinigkeiten mit persönlicher Erinnerungsbedeutung, aber ohne irgendeinen materiellen Wert. In Karljohan´s Nachttisch fand sie eine Art Kalenderbuch, das sie nicht kannte und nahm es ebenfalls an sich. Nach einem fragenden Blick auf den stummen Beobachter packte sie noch ein paar Blumentöpfe in ihren Karton. Eine unerquickliche Diskussion ergab sich, als sie ein winziges Kinderbesteck aus Silber mitnehmen wollte, das das Taufgeschenk für Selina von deren Patin war. „Ich will in diesem Fall mal ein Auge zudrücken“ meinte ihr Bewacher ebenso süffisant wie mißmutig und schaute auf seine Uhr. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ sie die Wohnung mit ihrer dürftigen Habe. Zu Hause in ihrer Dachwohnung angekommen, stellte sie erst einmal die Kaffeemaschine an und hockte sich an den Küchentisch. Für ein paar Minuten weinte sie einsam und still vor sich hin und versuchte die Eindrücke der letzten Stunde zu verarbeiten. Danach tat sie, was sie schon in ihrer ehemaligen Wohnung zu tun versucht war: sie schaute die Bilder an. Bilder aus glücklichen Zeiten, von zwei gemeinsamen Urlaubsreisen, von der winzig kleinen Selina, von ihrer Hochzeit. Aus den Tränen wurden Sturzbäche, als sie die Fotos von einem besonders gelungenen Wochenendtrip nach Amsterdam ansah. Irgend ein Passant hatte das Foto von Karljohan und seiner hochschwangeren, eng an ihn geschmiegten und glücklich lachenden Ulrike geschossen. Vorbei. Ganz zum Schluß nahm sie sich das Kalenderbuch vor. Irgendwie ahnte sie schon, daß es etwas besonderes war. Sie hatte das außen unbeschriftete Buch mit der Jahreszahl 1999 noch nie zuvor gesehen. Allein die Tatsache, daß es in Karljohan´s Nachttischschublade lag, machte es zu einer Besonderheit. Sie klappte es auf. Es war ein persönliches Tagebuch. Vor dem ersten gültigen Datum, dem 1. Januar, stand eine sechs Seiten lange Zusammenfassung der Ereignisse vom 5. Oktober an bis zum Jahresende. Die letzte Eintragung dieser Einleitung lautete: „Ulrike und Selina sind weg.“ Danach gab es für jeden Tag einen mehr oder minder langen Bericht. Die Aufzeichnungen zeugten von Karljohan´s Ängsten, seiner manifest gewordenen Medikamentenabhängigkeit und seinen andauernden Suizidgedanken. Minutiös wurde die Trauer um den Auszug seiner Frau und seiner Tochter zum Ausdruck gebracht und der Zorn auf seinen Vater, den er aber mit keiner Silbe zur Sache beschuldigte. Für seine Mutter hatte er nur Mitleid. Grenzenloses Mitleid. Es war mitbestimmend für sein Handeln, aber nicht wesentlich weniger auch die Gedanken an seinen materiellen Wohlstand. In dem Tagebuch fanden sich überdies reichlich Hinweise auf den jeweils aktuellen Gesundheitszustand der Opfer der von Karljohan beschafften Giftpilze. Offensichtlich hatte er in dieser Hinsicht ganze Arbeit geleistet. Das Tagebuch enthielt aber auch nicht weniger als den genauen Hergang des Unfalles, die Anschrift von Jean-Claude Sournois und den Besuch bei dem namentlich genannten Pilzsachverständigen. Ulrike zwang sich zu logischem Denken. Hier vor ihr lag der Beweis. Nachweislich und unanfechtbar handgeschrieben vom Einkäufer der Giftpilze als Verursacher der Tragödie. Aber auch den Irrtum bezeugend und Vorsatz ausschließend. Die Enthüllungen würden es erlauben, daß die Opfer zu ihrem Recht kamen. Es wäre also eindeutig Ulrike´s Pflicht die wahren Umstände der Katastrophe ans Licht zu bringen. In der Folgezeit versuchte sie die Beweggründe für ihr mögliches Handeln zu erforschen. Wer hätte einen Vorteil, wenn sie den Inhalt des Tagebuches für sich behalten würde, wer einen Nachteil? Sie fragte sich das immer wieder, quälte sich, litt alpträumend und fühlte sich als Verräterin. Schließlich hatte Karljohan ja offensichtlich gute Gründe für sein Schweigen gehabt. Fortsetzung folgt
Der Butterpilz
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