Oma Lucie und die Hallimasch

Dunkler Hallimasch Armillaria ostoyae

Dunkler Hallimasch Armillaria ostoyae

Oma Lucie war ein Jahr jünger als unsere Mutter,
so dass der Begriff "Oma" eigentlich ziemlich unpassend erscheint,  zumal sie selbst ja auch niemals Mutterfreuden genossen hatte.
Andererseits fiel es uns auch nicht sonderlich schwer, sie mit "Oma" anzureden, weil sie mit ihrem unvermeidlichen Blümchenkittel
(ich habe sie zeitlebens niemals in irgend einem anderen Kleidungsstück gesehen) und dem strengen Dutt mit Netz drumrum mindestens ältlich- mütterlich,  wenn nicht gar großmütterlich wirkte.
Zu unserer Stiefoma war sie geworden, als mein Opa mütterlicherseits, nachdem er zum zweiten Mal Witwer geworden war, sich - bewusst oder unbewusst - als dritte Ehefrau eine Lady angelacht hatte, die nicht mal halb so alt war wie er selbst.
Ob er dabei ein statistisch längeres Mindesthaltbarkeitsdatum handelsüblicher Ehefrauen im Sinn hatte,  oder ob er hoffte, dass sich der Altersunterschied im Laufe der Zeit irgendwie und irgendwann mal ausgleichen würde, entzieht sich meiner Kenntnis.
Oma Lucie hatte eine Menge Marotten, von denen mir der ständige Verstoß gegen das achte Gebot besonders gut erinnerlich ist.
Tatsächlich wurde sie des Bös-Zeugnis-Redens wider ihre Nächsten nicht müde.

Aber Lucie hatte auch gute Eigenschaften:
Sie hatte viel Geduld und war die Ruhe selbst,
sie war überaus reinlich
und sie konnte vortrefflich Hallimasch kochen.

Mit der Befähigung zu Letzterem hatte sie uns vor mehr als einem halben Jahrhundert zumindest in einen von 14 schrecklichen Urlaubstagen einen Sonnenstrahl geschickt, der auch in den Folgejahren allherbstlich aufblitzte, wenn Oma Lucie Hallimasch kochte.

Es begann so: ca. 1960 hatten wir - d.h. meine Eltern - uns den allerersten Urlaub gegönnt. Das war aber nur möglich, weil
1. Opa und "Oma" und deren Portemonnaie mit von der Partie waren
2. weil wir eine private Unterkunft hatten und
3. die herbstlich-billigere Nebensaison gebucht hatten.

Wir fuhren zu sechst im VW-Käfer vom Saarland bis ans 500 km entfernte Ziel in Murnau (Oberbayern), wobei die meiste Zeit die damals knapp 30 Jahre alte Oma Lucie meine kleine Schwester (5) und Opa (ca. 58-59) mich auf dem Schoß hatten.
(Ich war mit meinen knapp sechs Jahren schon ein rechter Brocken! Und wenn ich mir das heute vorstelle, 500 km im VW-Käfer...)
 
Unsere Urlaubs-Hauswirte waren offensichtlich noch ärmer als wir, denn wie sonst wäre es zu erklären,  dass eine Familie ihre Schlafzimmer fremden Leuten gegen Bezahlung überlässt, während sie alle tagsüber wie nachts im Wohnzimmer und in der Garage hausen.
Das oberbayerische Einfamilienreihenhaus also beherbergte statt der üblichen sechs nun zwölf Personen.
Das wäre vielleicht nicht so dramatisch, wenn die Sommerfrischler tagsüber auf Wanderschaft gehen würden,  wie das ja auch vermutlich vorgesehen war. Aber Petrus war leider nicht mit uns und unseren Vermietern: Die ganzen 14 Tage dieses "Urlaubs" regnete es in dem verschlafenen bajuwarischen Kaff Bindfäden. Es kam nonstop das vom Himmel runter, was man dort Schnürlregen zu nennen pflegt, wie wir bald lernen durften. Es dauerte nicht lange (waren es Stunden oder Tage?) , da gingen wir uns alle entsetzlich auf die Nerven.
Außer der Dorfschenke gab es keinerlei Zufluchtsorte, an denen wir es uns hätten gut gehen lassen können.
In dieser Wirtschaft gab es dünnes Bier ohne Schaum in gewaltigen Glashumpen, die fast bis zum oberen Rand gefüllt waren.
Wobei diese mordsmäßigen Biergefäße - neben einem Kachelofen mit Ofenbank und unzähligen Geweihen an der Wand -
das Wenige ist, an das ich mich im Zusammenhang mit der Gaststätte noch gut erinnern kann.

Jedenfalls kamen wir nach ein paar Tagen auf die Idee, dass man ja Pilze suchen gehen könnte.
Allerdings kannten wir nur Hallimasch und von Röhrlingen wussten wir nur, dass man damit nichts falsch machen kann.
Also besorgten wir uns Gummistiefel und Regenjacken. Aber nur wir vier Frauen, denn Opa und Papa zogen es vor,
den opulenten Biergläsern in der Dorfschenke Gesellschaft zu leisten.
Ich nehme zu ihren Gunsten an, dass sie die Sorge hatten, dass man nur schwerlich vier,
aber keinesfalls sechs zusätzliche Paare Gummistiefel für die Rückreise im VW-Käfer würde verstauen können.
Nun stapften wir also, wenig professionell mit Messern und einigen großen Nylontüten ausstaffiert, in den nahen Wald.

Es gab eine Menge Pilze in diesem Wald,
klar bei dem Wasserangebot.
Nur waren leider keine dabei, die wir kannten.
Nach über einer Stunde Watens in unbekannten Tricherlingen, Rüblingen und Täublingen kamen wir  zu einem Fichtenkahlschlag.
An den Stubben und auch direkt auf dem Waldboden wuchsen zentnerweise die üppigsten Büschel von knackig-frischen Hallimasch.
Wir schnitten, schaufelten und stopften sie alle in unsere Nylontüten, ignorierten dabei den Regen und vergaßen die Zeit.
Schließlich marschierten wir auf dem gleichen Weg zurück. Dabei fanden wir noch drei schöne, große, völlig gesunde Steinpilze,
wobei wir hätten schwören können, dass die auf dem Hinweg noch nicht da waren.

Es dämmerte schon, als wir, völlig durchweicht, mit unserer Beute "nach Hause" kamen.
Vater und Opa waren wohl noch immer mit ihren Bierhumpen beschäftigt, jedenfalls hier waren sie mal nicht.
Dafür in der Küche unser Vermieterehepaar mit einer fast erwachsenen Tochter.
Man muss dazu erwähnen, dass wir für die Zeit unseres Urlaubs Küchenmitbenutzung vereinbart hatten,
davon aber bisher keinen Gebrauch gemacht haben, weil wir in den ersten Urlaubstagen in der erwähnten Gaststätte zu Abend aßen. 
Aber heute würden wir auf unserem Recht bestehen, so voll die Küche dann auch sein würde. Immerhin befanden sich
zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieben Personen darin, und die anderen würden möglicherweise auch noch rein passen müssen.

Stolz zeigten wir den Hausbesitzern unsere Beute.
Vorausschauend hatten sie bei unserer Ankunft den Küchentisch mit Zeitungspapier abgedeckt.
Vermutlich hatten sie zuvor schon häufiger Erfahrungen mit Pilze sammelnden Sommerfrischlern gemacht.

Auf die Zeitungen wurden jetzt die Nylontüten mit den Hallimasch ausgeleert,
es waren insgesamt sicher an die 10 kg. Und die drei Steinpilze mittendrin.
Mit ungläubigem Entsetzen im Blick erklärten uns die Hausleute, dass man diese Pilze nicht essen könne.
Aber Lucie meinte: "Wartet es ab" und begann damit,
die Hallimasch zu enthaupten und die Köpfe, zweidreimal durchgeschnitten,
samt einzwei Zentimeterchen der zartesten oberen Stielabschnitte in eine große, viereckige Plastikschüssel zu häufeln.
Als sie sich anschickte, die Steinpilze einfach dazuzuschnippeln, schrie die Tochter entsetzt auf.

Ob es denn möglich sei, dass sie die Steinpilze bekommen könne,

im Austausch gegen die Zutaten, die wir ja sicher für unsere Pilze brauchen würden.
Stimmt, daran hatten wir ja gar nicht gedacht. Inzwischen, es war fast sieben Uhr, hatte das einzige Geschäft am Ort längst Feierabend.
Ja, wir benötigten Butter, Petersilie, Zwiebeln und Kartoffeln. Sonst nichts.
Und sie seien natürlich zum Hallimasch-Essen eingeladen, es sei ja genug da.

"Nein, nein", wehrten sie einmütig ab, sie hätten mit den drei Steinpilzen genug,
die die Hausvermieterin inzwischen schon liebevoll feinblättrig aufzuschneiden begann.
Mutter und Oma Lucie hatten die Pilze bald geputzt, wobei meine kleine Schwester und ich nach Kräften mithalfen.
Das Waschen der Pilze war Chefsache für Lucie und sie war mit ihrem Werk erst zufrieden,
wenn kein einziges Schüppchen mehr im zum siebten Mal gewechselten Wasser schwamm.
Derweil schälte Mutter die Kartoffeln und setzte sie auf. Würfelte jede Menge Zwiebeln, briet sie im Einwecktopf in reichlich Butter an, hackte Petersilie und briet auch die ein paar Minuten mit.

Darauf kamen die Hallimasch
. Ohne Wasser! Wobei sich der 9-Liter-Topf zunächst als viel zu klein erwies.
Aber nach dem ersten Aufkochen waren die Pilze soweit zusammengefallen, dass der Topf den Rest auch noch fassen konnte.
Noch Salz dazu und zweidrei Brühwürfel, umrühren und das Ganze mindestens 20 Minuten zugedeckt gut durchkochen lassen.
Inzwischen war der Rest beider Familien heimgekehrt. In der engen Küche waren nun ein Dutzend Leute.
Ein wirkliches Gedränge. Ich erinnere mich nicht mehr, vermute aber, dass es die Männer waren,
die im Nu die Möbel so umgerückt hatten, dass wir alle zusammen in dieser Küche essen konnten.
Denn im krassen Gegensatz zu den Entsetzensäußerungen bei unserer Ankunft hatten die Übrigen den inzwischen sich
ausbreitenden Hallimaschduft als ausgesprochen köstlich und appetitanregend empfunden.

Lucie war in ihrem Element: Ihr konnten Töpfe, Pfannen und Schöpfkellen gar nicht groß genug sein;
sie hätte sich gut an einer Gulaschkanone der Bundeswehr gemacht.
Lucies Augen blitzten, als sie allen nacheinander einen Schlag Salzkartoffeln auf die Suppenteller tat
und einen noch ordentlicheren Schlag des rotzigen Hallimaschschleimes darüber klaschte.
Kein einziger am Tisch, der nicht genüßlich die Kartoffeln mit der Gabel zerdrückte und mit den Pilzen vermanschte,
keiner, der nicht noch einen zweiten oder gar dritten Schlag des Hallimasch-Eintopfes verlangte und ebenso kein einziger,
dem davon schlecht wurde, nicht mal in Anbetracht der übervollen Mägen.

Was ich oben von Oma Lucies Eigenschaften zu erwähnen vergaß: Lucie war eine Frau, die partout nichts Essbares wegwerfen konnte. Eigentlich war das für viele Menschen dieser Kriegsgenerarion selbstverständlich, aber bei ihr war es besonders ausgeprägt.
Gab es etwas, was erstens reichlich vorhanden und zweitens leicht aufzuwärmen war, war Oma Lucie die Erste,
die im Geiste schon “aufbäckelte”, bevor die Tafelrunde überhaupt gesättigt war.
Das führte - in Anwesenheit von Oma Lucie - regelmäßig dazu, dass wir uns in stiller Übereinstimmung überfressen haben, nur damit Lucie später nichts mehr zum “Aufbäckeln” haben würde.
Bei den Hallimasch war das aber etwas anderes, denn wir fraßen einfach, weil es uns höllisch gut schmeckte.
Außerdem weiß ja jedes Kind, dass man Pilze nicht aufwärmen kann.

Ach ja, im Anschluss gab es  - quasi als Dessert - noch ein Löffelchen von den Steinpilzen.
Die waren auch fein, Aber die Hallimasch waren besser, so der allgemeine Tenor.
Ja, wenn die Mäuse satt sind, ist das Mehl eben bitter...

Heute ist ja alles anders: Pilze kann man aufwärmen, spätestens seit Carl von Linde 1876 den Kühlschrank erfunden hat,
bei der Bundeswehr schöpfen Frauen aus der Gulaschkanone,
in VW-Käfer passen keine sechs Leute samt Gepäck mehr rein,
die Geschäfte haben bis fast Mitternacht auf ...
... und Hallimasch sind giftig. 

Tintling