Fliegenpilz Amanita_muscaria

Fliegenpilz Amanita muscaria

Schöne neue (Pilz-)Welt

Kennen Sie Amanita wenzeli? - Nein? - Keine Sorge, Sie haben damit keine mykologische Wissenslücke offenbart, sondern allenfalls eine literarische, denn dieser Wulstling ist ein ausgesprochener „Buchpilz“, der in freier Natur glücklicherweise noch nicht gesichtet wurde. „Wenzels Pilz“ ist nämlich der Titelheld eines realitätsnahen Science-Fiction-Romanes, der sich mit der Problematik der Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen und Tiere auseinandersetzt:
Bernhard Kegel: Wenzels Pilz. Roman, Zürich: Ammann Verlag 1997, 368 S., DM 42.-.

Die fiktive Ausgangssituation des Romans ist rasch skizziert:  Um die von massiver Umweltverschmutzung zerstörten Wälder Norwegens  wieder aufzuforsten, wurden zu Beginn des nächsten Jahrtausends säureresistente Gentech-Bäume angepflanzt. Als diese transgenen Koniferen nicht wie gewünscht wuchsen, schuf der Biochemiker Kurt Wenzel zur Beschleunigung ihres Wachstums aus normalen Fliegenpilzen (Amanita muscaria) einen hocheffektiven Mykorrhizapilz - eben Amanita wenzeli. Nach anfänglichen Erfolgen entwickelte der genetisch veränderte Pilz jedoch eine unvorhergesehene Eigendynamik. Er begann seine Baumpartner aufzufressen und wuchs dabei zu überdimensionaler Größe heran - Wenzels Pilz hatte sich anscheinend vom Symbiosepartner zum Parasiten verändert.
An dieser Stelle setzt die Romanhandlung ein. Ein engagierter Journalist entdeckt zufällig dieses neuartige, bisher geheimgehaltene Waldsterben und macht es publik. Aufgeschreckt von den beklemmenden Bildern riesiger Fliegenpilze und gewaltiger Pilzfliegenschwärme vor der gespenstischen Kulisse toter Baumgerippe verfällt die unheilige Allianz aus Politik, Wissenschaft und Gentech-Industrie in hektische Betriebsamkeit. Wenzel wird als vermeintlicher Verursacher der Katastrophe dazu verdonnert, eine schnelle Lösung des Problems zu entwickeln, doch ihm fällt nichts Besseres ein, als den Teufel mit den Beelzebub auszutreiben: Er kreiert eine besonders gefräßige Spezies der Pilzfliegengattung Megaselia, deren Larven die Pilze vor dem Aussporen auffressen und damit an der Aussporung hindern sollen. Doch schon bald stellt  sich heraus, daß ein derart eindimensionaler Lösungsansatz in einem komplexen Ökosystem keine Erfolgschance hat. Die Probleme werden lediglich verlagert und sogar noch verschärft, und wie im richtigen Leben ist am Ende die (gentechnologische) Industrie der einzige Gewinner.

Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten. Zur Beruhigung der Pilzfreunde sei lediglich noch angemerkt, daß der modifizierte Fliegenpilz als vermeintlicher Verursacher des Baumsterbens letztendlich rehabilitiert wird. Dies bleibt allerdings die einzige gute Nachricht.
Der promovierte Biologe Bernhard Kegel besitzt die seltene Gabe, komplizierte biologische Zusammenhänge - wie z.B. die Mykorrhiza - sehr präzise und wissenschaftlich fundiert, aber trotzdem verständlich darzustellen. Darüber hinaus warnt er als engagierter Ökologe eindringlich vor den Gefahren unkontrollierter und unkontrollierbarer gentechnischer Experimente zu Lasten der natürlichen Umwelt. Zum dritten ist er ein phantasiebegabter Schriftsteller, dem es glänzend gelingt, sein biologisches Wissen und sein ökologisches Anliegen in einer spannenden, mit sarkastischen Humor gewürzten Story zu verpacken. „Wenzels Pilz“ ist somit ein ebenso ambitionierter  wie unterhaltsamer Roman, der lediglich wegen seiner begründet düsteren Zukunftsvision beim Leser ein beklemmedes Gefühl hinterläßt.  Doch angesichts geklonter Embryos und transgener Anti-Matsch-Tomaten läßt sich einfach nicht länger verdrängen, daß die „schöne neue Welt“ im Sinne Aldous Huxleys unaufhaltsam näherrückt.

Martin Wagner, Kirchwaldstr. 32. 68305, Mannheim

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