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Fliegenpilz Amanita muscaria

Fliegenpilz Amanita muscaria

Der Fliegenpilz als Glückspilz - seit wann eigentlich?

von Prof. Dr. Hanns Kreisel, 17498 Potthagen

Was für den Ostasiaten der Lackporling, das ist für den Mitteleuropäer der Fliegenpilz -
Amanita muscaria führt ein vieltausendfaches Dasein auf Glückwunschkarten zum Geburtstag, Neujahr, Einzug, Weihnachten und anderen Gelegenheiten, in der Regel begleitet von anderen Glückssymbolen wie schönen Frauen, vierblättrigen Kleeblättern, Hufeisen, Kindern jeglichen Alters, Vergißmeinicht, Veilchen, Schornsteinfegern, Marienkäfern bis hin zum profanen 10.-DM-Schein. Nicht selten finden wir den Fliegenpilz in Schnee- oder Frühlingslandschaften oder auf Bartischen fruktifizierend, wenn es sich um Glückwünsche handelt.

War dies immer schon so, und ist dies überall so? Die gegenwärtig in größerer Zahl erhältlichen Bücher über Fliegen-, Glücks-, Rausch- und Zauberpilze (z.B. Bauer & al. 1991) geben darüber kaum Auskunft. Zwar schreibt z.B. Christian Rätsch in seinem Buch Pflanzen der Liebe (1990, 1995):
„Der Fliegenpilz ist eine uralte eurasische Zauberpflanze.
Er wurde von den Schamanen vieler Völker in Nordeuropa und Sibirien eingenommen, um eine prophetische Trance zu erzeugen oder verborgene Heilkräfte freizusetzen. ... Fast überall, wo der Pilz wächst, dient er rituellen Handlungen, die mit der Erotik eng verbunden sind.“ Häufig zitiert werden auch die Theorien von Wasson 1968, wonach sich ein Fliegenpilzkult von Indien nach Sibirien ausgebreitet hat, und von Allgro (1970, 1971), wonach die frühchristliche und andere Religionen des Vorderen Orient auf sumerische Fruchtbarkeitsriten zurückgehen, in denen psychedelische Pilze wie der Fliegenpilz eine große Rolle gespielt haben sollen.

Indessen läßt sich ein Zusammenhang zwischen schamanistischen Religionen und dem heutigen Symbolwert des Fliegenpilzes nicht nachweisen. Die Kräuter- und Pilzbücher von Albertus Magnus über Lonitzer, Clusius, Linnaeus bis hin zu H.O. Lenz und E. Michael kennen den Fliegenpilz nur als Giftpilz und als Mittel zum Fliegentöten. Nach Auskunft der Ethymologischen Wörterbücher (Kluge 22. Aufl. 1989, Pfeifer 1995) tritt das Wort „Glückspilz“ zuerst im 18. Jh. in der Bedeutung „Emporkömmling, Parvenu“ auf, „der wie ein Pilz gleichsam aus dem Nichts aufschießt“ - also keineswegs immer schmeichelhaft; man vergleiche dazu die Satire Der dicke Pilz von Hermann Löns (in Frau Döllmer, 1910).
In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wird „Glückspilz“ dann gleichbedeutend mit „Glückskind“,
d.h. vom Glück begünstigter Mensch. Postkarten gibt es seit 1869, und schon 1871 wurde die erste Glückwunschkarte entworfen.

Wann in diesem Zusammenhang der erste Fliegenpilz auftaucht,
können wohl nur Besitzer wertvoller Sammlungen beantworten.
Die älteste Fliegenpilz-Glückwunschkarte in meiner Sammlung wurde 1899 in Leipzig geschrieben und gestempelt (Abb.). Jan Kuthan (briefl. 1995) besitzt eine Pilz-Glückwunschkarte von 1898, aber der Pilz ist kein Fliegenpilz.
Nach 1900 gibt es dann Glückwunschkarten mit Fliegenpilzen
in reicher Fülle bis in die Gegenwart.

Dies gilt in erster Linie für Deutschland. In meiner Sammlung gibt es Glückwünsche mit Fliegenpilz-Motiven auch aus den Niederlanden, Schweiz, Tschechoslowakei, Litauen, Rußland und der Ukraine; Korrespondenten (W. Kühnl 1995; J. Kuthan 1995) kennen solche aus Frankreich, Ungarn, Kroatien und England.
Eine Umfrage unter Kollegen beim jüngsten europäischen Mykologenkongreß (1955) ergab, daß Amanita muscaria weiterhin in Bulgarien, Slowenien, Österreich und Norditalien als Glückspilz gilt. In Tschechien und den Niederlanden hat sich der Gebrauch des Fliegenpilzes als Glücksboten weitgehend verloren.

Widersprüchliche oder unklare Auskünfte erhielt ich aus England, Belgien und Norwegen, während in Schweden, Dänemark, Finnland, Polen, Estland und Teilen Rußlands der Fliegenpilz ebensowenig Glück symbolisiert wie in Portugal, Spanien, Süd- und Mittelitalien. In diesen Ländern wird man vergeblich nach entsprechenden Glückwunschkarten suchen, ebenso auf den außereuropäischen Kontinenten.

Warum hat von tausenden mitteleuropäischen Pilzarten gerade der Fliegenpilz diesen Symbolwert? Handelt es sich wirklich um eine Reminiszenz an weit zurückliegende schamanistische Zeiten? Viel wahrscheinlicher ist doch, daß das einprägsame, jedem Kind vertraute Farbmuster des rot-weißen Pilzhutes hier ausschlaggebend war - man vergleiche das rot-schwarze Farbmuster des Marienkäfers, der, wesentlich später, ebenfalls zum Requisit der Glückwunschkarten geworden ist!

Der farbfreudige Fliegenpilzhut hat eine Signalwirkung wie keine andere Pilzart.
Dies gilt übrigens auch im negativen Sinne: In Kriminalromanen bedient man sich mitunter des Fliegenpilzes als Mordinstrument (W. Brøgger: Morderen plukker fluesopp, Oslo 1957). Man vergleiche auch die köstliche Szene einer Fliegenpilz-Massenvergiftung bei Günter Grass: Der Butt, Darmstadt 1977 (Kapitel Unterm Sauerampfer versteckt), und über einen außer Kontrolle geratenen, gentechnisch manipulierten Fliegenpilz-Stamm schrieb unlängst Bernhard Kegel in einem makabren Roman (Wenzels Pilz, München 1993, Zürich 1997).

Außer dem Fliegenpilz kommen gelegentlich auch Steinpilz und andere Röhrlinge, Pfifferling und Champignon auf Weihnachts- und Neujahrskarten vor, aus Rußland sogar der Steinpilz in Verbindung mit Osterhasen. Über die uralte Bedeutung des Lackporlings (Ganoderma lucidum, Rei-shi, Ling-Zhi) als Glückspilz in China, Japan, Korea und Vietnam konnte man schon wiederholt im Tintling nachlesen.
Im vergleich zu dessen Jahrtausende alter, kontinuierlich nachweisbarer Tradition nimmt sich die hundertjährige Geschichte des Glückpilzes Amanita muscaria doch recht bescheiden aus.

Literatur:
Allegro, J.M. (1970): The sacred mushrooms and the cross. Garden City.
Allegro, J.M. (1971): Der Geheimkult  des heiligen Pilzes. Rauschgift als Ursprung unserer Religionen. Wien.
Bauer, W. & al. (Hrsg., 1991): Der Fliegenpilz. Ein kulturhistorisches Museum. Köln.
Kluge, W. (1989): Ethymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. Hrsg. E. Seebold. Berlin
Pfeifer, W. (Hrsg., 1995): Ethymologisches Wörterbuch des Deutschen. München (dtv).
Rätsch, Ch. (1990): Pflanzen der Liebe. Aphrodisiaka in Mythos, Geschichte und Gegenwart. Bern und Stuttgart; 2. Aufl. Aarau 1995.
Wasson, R.G. (1968): Soma. Divine Mushroom of Immortality. New York.

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