Speisetäubling Russula_vesca

Speisetäubling Russula vesca

Das Märchen vom König und seinem Majordomus


Vor langer, langer Zeit schaute sich der König eines indogermanischen Reiches seinen Staatssäckel an und stellte fest, dass er etliche Golddukaten übrig hatte. Die wollte er einem guten Zweck zuführen. Er rief seinen Majordomus herbei, um sich mit ihm zu beraten, was denn so ein guter Zweck sein könnte. Nun war der Majordomus erstens ein guter Pilzkenner und zweitens auch der Verwalter der königlichen Gärten und Forsten. Er wusste auch, dass sein König Trüffeln, Steinpilze, Pfifferlinge und Kaiserlinge über alles liebte und ihn schon oft damit beauftragt hatte, ihm welche zu beschaffen. Der Majordomus hatte sodann auch gleich die zündende Idee: "Mein König, wir könnten feststellen, welche und wieviele Pilze in Euren Gewannen wachsen." Damit hatte er seines Königs Musikknochen getroffen.
"Au fein, das ist eine famose Idee. Kartiere er mir die Schwämme meines Landes und bring er mir dabei auch was Gutes zum Essen mit."
"Mein König, Euer Land ist sage und schreibe zigtausendzweihundertvierundzwanzig Quadratklafter groß, das kann ich unmöglich alleine schaffen."
"Das braucht er auch nicht. Sagt, unter seinem Gesinde ist doch eine Reihe von Bediensteten, die er seinerzeit für die Schwämme begeistern konnte."
"Ja, Euer Durchlaucht. Es sind etwa dreißig Leute. Davon kennen sich neben mir noch weitere drei sehr gut aus mit den Schwämmen, ein Dutzend hat leidlich gute Kenntnisse und 15 Leute kennen zumindest die wichtigsten Speise- und Giftpilze. Wir treffen uns in gewissen Abständen. Diese Untertanen könnte ich sicher dazu motivieren, die Schwämme Eurer Gemarkungen zu zählen, zu bestimmen und aufzuschreiben."

"Gut, dann tut das. Ihr habt 24 Monde Zeit. Hier ist der Lohn für Eure Bemühungen im Voraus."
Mit diesen Worten reichte der König seinem Majordomus ein Säckchen mit 1000 4fachen Golddukaten.  Der Majordomus nahm es und ging erst mal leicht in die Knie, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass das kleine Säckchen fast 14 Kilo wog.
Trotz des Gewichtes eilte er beflügelt erst mal nach Hause, um das Dukatensäckchen unter seinem Nachtlager abzulegen. Dann machte er einen vorläufigen Plan und legte den seinen Kundigen der Schwämme vor.

Jetzt gings ans Motivieren. Das war etwas, das dem Häuptling stets gut gelang, denn er hatte Charme, Charisma und das gewisse Etwas, das ihn fast automatisch zu einem Leitwolf machte, zu dem andere aufschauen. Er verteilte Zettel mit allerlei floristischen und ökologischen Daten zum Ankreuzen, erläuterte, welche Gebiete weshalb zu besuchen seien und erklärte überhaupt den Sinn und das Ziel des Projektes. "Das Projekt" war in der Folgezeit das meistgesprochene Wort aus des Häuptlings Mund. Von einer Entlohnung sagte er erst mal nichts, denn seine motivierte Dreißigschaft war auch so schon Feuer und Flamme. Nun durfte sich jeder geeignete Gebiete aussuchen, die dann in im Abstand von einem Mond zu besuchen sein würden.

Wie im richtigen Leben auch, beluden sich ein paar Enthusiasten (vor allem die drei aus der vorderen Streberbank) gleich mit vier oder fünf Gebieten und andere begnügten sich mit einem.
Es dauerte nicht lange, da begannen die ersten Schwammegieher zu merken, was sie sich da aufgebürdet hatten. Sie stöhnten und jammerten, beklagten die Zeit und die Kosten, die durch die vielen mühsamen Ritte und Droschkenfahrten in die zum Teil weit entfernten Schwammerlgründe anfielen. Der Häuptling tröstete, motivierte und streichelte so manchen Scheitel. Schließlich stellte er auch eine kleine Präsentation (oder war es ein Präsentchen?) beim Abschluss des "Projektes" in Aussicht. Schon vor Ende der eigentlichen Pilzsaison des ersten Jahres fing es trotzdem arg zu bröckeln an und manche begannen sich zu fragen, warum sie das eigentlich mitmachen.
Da plötzlich rückte der Häuptling damit heraus, dass er vom König ein paar Dukaten bekommen hätte, die er beim Abschluss des "Projektes" unter den Kartierern verteilen würde.
Oh fein, es gibt Dukaten. Also tief durchatmen, Zähne zusammenbeißen und weitermachen.

Nun war in der Dreißigschaft aber ein Pfiffikus, der wusste, dass der König nicht so einfach Dukaten verteilen konnte, ohne die beim Schatzmeister des Landes irgendwie zu deklarieren. Er verschaffte sich also Einblick in den öffentlichen Säckel und erfuhr von den 1000 verausgabten 4fachen Dukaten.
Beim nächsten Treffen der Dreißigschaft sprach er das Thema an.
Der Häuptling widersprach auch gar nicht, sondern machte folgende Rechnung auf:
200 Dukaten braucht er für Fachfolianten und wissenschaftliche Schriften, damit er das Projekt überhaupt durchführen kann.
200 Dukaten braucht er für eine Rechenmaschine. (Heute würde man das Hardware nennen).
200 weitere Dukaten, damit die Rechenmaschine auch funktioniert (Software).
100 Dukaten bekommt sein Eheweib, weil es die Daten, die die Kartierer dem Häuptling apportieren, in die Rechenmaschine einfüttert.
100 Dukaten bekommt sein Sohn, weil er das, was das Eheweib in den Rechner gefüttert hat, auf seine Richtigkeit überprüft.
100 Dukaten sind für ihn selber, für die Auswertung und die Niederschrift, das ist eigentlich viel zu wenig für das, was er macht.
Bleiben 100 Dukaten übrig, die unter der Dreißigschaft fürs Kartieren zur Verteilung stehen.
Die werden nach einem Schlüssel verausgabt, der sich an der Anzahl der abgelieferten Kartierungsbögen orientiert.

Dieses Salair wurde nach Ablauf der beiden Jahre dann in Form von Naturalien - nämlich Folianten und Schriften - unter den Kartierern verteilt. Die Kartierer mit den vier oder fünf Gebieten und entsprechend vielen Listen bekamen Folianten, in der Spitze den Fünfbänder vonÉmilie Boudier. Am anderen Pol bekamen die  Kartierer mit nur einem Gebiet und einer bis wenigen Listen eine pilzkundliche Standardschrift, etwa in der Klasse des 1x1 des Pilzesammelns von  Walter Pätzold und Hans Laux oder vergleichbaren Werken. Dazwischen gab es auch einiges, eben im Gesamtwert von 100 Dukaten.
Die vielen Schriften kaufte der geschäftstüchtige Häuptling bei einem einschlägig spezialisierten Kaufmann, dem er noch einen ordentlichen Rabatt abschwatzte. Der Foliantenhändler willigte widerstrebend ein. Wann bekommt man auch schon mal eine Beauftragung über 300 4fache Golddukaten.
Alle Bücher setzte der Häuptling dazu noch von der Steuer ab. Naturgemäß waren welche doppelt, und zwar im Wert besagter 100 Dukaten, eben dem Salair für die 30 Kartierer. Aber dann erklärte er dem Stadtkämmerer, dass er die einen am Arbeitsplatz und die anderen zu Hause brauchen würde. Schließlich arbeitet ein Häuptling rund um die Uhr.
Die Kartierer rechneten sich indessen frustriert aus, dass das für sie das größte Verlustgeschäft war, seit der Schöpfer die Schwämme erfunden hat. Aber das kann man auch positiv sehen, denn sie hatten ja - dem Häuptling sei Dank - eine Menge davon in den 24 Monden kennengelernt.

Ach ja, manche wollten noch wissen, was denn nun das Ergebnis der ganzen steuersklavenfinanzierten Mühe war.
Tusch. Tätä.
Es war ein Vortrag über die Vorkommen des Speisetäublings im Königreich, vom Häuptling selbst vor dem König und einem ausgewählten Publikum gehalten. Die Kartierer mussten leider draußen bleiben.
Von dem Vortrag gab es eine Niederschrift,  die man sich in der öffentlichen Bibliothek gegen entsprechende Gebühr kopieren lassen konnte. Das machte aber keiner und es huldigte fortan auch niemand aus der Kartierertruppe mehr dem Häuptling.

Und wenn er nicht gestorben ist, und wenn der König nicht zwischenzeitlich pleite ist,
macht er sicher noch weitere "Projekte". Eine willfährige Dreißigschaft wird sich irgendwie immer finden lassen.

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